Wirtschaft: Ist Deutschland Wieder Der “Kranke Mann” Europas?

Trotz aller Kriege und Krisen – die Weltwirtschaft wächst weiter, wenn auch nicht mehr so stark. Fast überall scheint wenigstens ein bisschen was zu gehen. Nur Deutschland hat offenbar den Anschluss gründlich verpasst: Die Wirtschaft schrumpft.

Deutschland als “kranker Mann” Europas war 1999 das Bild von einer Karikatur, die das britische Wirtschaftsmagazin “The Economist” veröffentlichte. Im August 2023 heißt es nun wieder auf der Titelseite: “Is Germany once again the sick man of Europe?” Ist das Land also wieder Letzter in Europa, noch hinter Großbritannien, das sich trotz Brexit besser schlägt als wir und auch in diesem Jahr ein kleines Wirtschaftswachstum erreicht?

Die Krankheiten seien diesmal andere als 1999, ist im “Economist” zu lesen. Den Befund liefern die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. In ihrer Herbstprognose sagten sie für das Gesamtjahr 2023 einen Wachstumsrückgang von 0,6 Prozent voraus.

Habeck bietet Wette auf deutsche Wirtschaft an

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) widersprach dem “Economist” mit einem energischen “No” und schrieb sogar einen ganzen Text für die britische Zeitschrift. Seine Antwort war, die deutsche Wirtschaft sei “nicht krank – nur leicht aus der Form geraten”. Habeck verspricht ein großes Comeback mit sinkenden Strompreisen und neuen Großinvestitionen von 80 Milliarden Euro. Aber das wird wohl erst in den nächsten Jahren passieren. So schnell geht das nicht.

Es müsse Anreize geben in Deutschland, um freiwillig länger zu arbeiten, schrieb Habeck und traf damit ganz den Geschmack von Industrie- und Wirtschaftsverbänden wie BDA und BDI, die vor allem keine Viertagewoche wollen.

Schließlich bot Habeck dem “Economist” die Wette an, dass sein Land es schaffen wird. Habecks Vision entspricht der von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Auch er glaubt, dass nachhaltige staatliche Investitionen wie für die Energiewende oder den Klimaschutz die größte Volkswirtschaft wieder auf Kurs bringen können. Scholz forderte wiederholt dazu auf, das auch als Chance zu begreifen, dass er gemeinsam mit Habeck ein großes Konjunkturprogramm in Sachen Klima starten will.

Die Lage für die Wirtschaft ist ernst, aber nicht hoffnungslos

Wie weit die deutsche Konjunktur vom Kurs abgekommen ist, wird sich am 30. Oktober ganz offiziell zeigen. Das Statistische Bundesamt wird dann seine Wachstumszahl für das Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal veröffentlicht. Gerechnet wird damit, dass sich die Wirtschaftsleistung gegenüber dem Vorquartal um 0,3 bis 0,5 Prozent verschlechtert hat. Das ist kein Absturz, aber es ist zu wenig, wenn man in Rechnung stellt, dass die Wirtschaft im zweiten Quartal stagnierte und im ersten Quartal bereits negativ war.

Die Wachstumszahlen des Bundesamtes für Statistik sind reale Zahlen, die Inflation ist aus den veröffentlichten Ergebnissen also bereits herausgerechnet. Auch weitere Bereinigungen der Zahlen werden vom Bundesamt vorgenommen, so wird zum Beispiel auch die Zahl der Feiertage im Vergleich zum vorangegangenen Quartal berücksichtigt und angeglichen, um möglichst aussagekräftige Wachstumszahlen zu gewährleisten.

Minirezession in Deutschland, während fast alle anderen Länder wachsen

Nicht nur in Deutschland gibt es Wirtschaftsprobleme, aber hier scheinen sie ausgeprägter zu sein als in vielen Partnerländern. Der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds (IWF), Pierre-Olivier Gourinchas, brachte es jetzt so auf den Punkt: “Die Weltwirtschaft humpelt vor sich hin und sie sprintet nicht.” Die Weltwirtschaft erhole sich nur langsam von den Folgen der Pandemie, dem russischen Krieg gegen die Ukraine und der hohen Inflation, sagte Gourinchas. Das Wachstum ist dem IWF zufolge historisch schwach, beträgt aber nach den jüngsten Prognosen global immer noch 3,0 Prozent. Im Euroraum läuft es demnach auf plus 0,6 Prozent hinaus in diesem Jahr.

Deutschland weit abgeschlagen im internationalen Wachstumsvergleich

Im Vergleich von 20 untersuchten Ländern liegt lediglich Deutschland im Minus – zusammen mit dem internationalen Schlusslicht Argentinien, wo es allerdings eine massive Wirtschaftskrise gibt. An der Spitze hat Indien China beim Wachstum abgelöst und Indonesien stark aufgeholt. Bemerkenswert ist, dass selbst die russische Wirtschaft, trotz Ukraine-Kriegs, in diesem Jahr um 0,8 Prozent zulegen soll. Bei den Euroländern liegt Spanien vorn (2,3 Prozent), kommt Frankreich auf einen vollen Punkt und Italien auf 0,8 Prozent, um nur die wichtigsten zu nennen.

Wie aus der deutschen Exportstärke eine Schwäche wurde

Eine Exportnation wie Deutschland, wo viele Unternehmen ihr Geld in den Auslandsmärkten verdienen, ist besonders abhängig von der Weltwirtschaft. Wenn die Nachfrage in den Partnerländern sinkt, gehen in Deutschland die Bestellungen zurück. Der Chefvolkswirt von Union Investment, Jörg Zeuner, sieht dabei allerdings nicht mehr so schwarz: “Trotzdem gibt es Licht. Denn die Auftragseingänge in der Industrie dürften die Talsohle gerade durchschreiten.” Beim Konsum und der Stimmung der Verbraucher, die unter der hohen Inflation leiden (vor allem bei Energie und Nahrungsmitteln), ist Zeuner ebenfalls optimistisch.

Private Nachfrage bei den Verbrauchern soll eher zunehmen

Bei den privaten Haushalten dürften demnach die hohen Ersparnisse die Konjunktur stabilisieren. Aus den Corona-Jahren, als viele Ausgaben wie Reisen teilweise gar nicht möglich waren, gibt es anscheinend immer noch größere Rücklagen, welche die Verbraucher noch nicht aufgezehrt haben.

Ein wichtiger Punkt sind sicher auch die vergleichsweise hohen Tarifabschlüsse, bei denen einige Lohn- und Gehaltserhöhungen sogar noch über der hohen Inflationsrate liegen. Dadurch könnten einige private Ausgaben nachgeholt werden. Auch sind bei vielen Mietern und Wohnungseigentümern die Nachzahlungen für Heizung und Strom nicht so hoch ausgefallen, wie das zum Höhepunkt der Energiekrise 2022 befürchtet wurde.

Was ist dran an der Rezessionsgefahr, die es so nur in Deutschland gibt

Schon zu Jahresbeginn war in Deutschland von “Rezession” die Rede, weil das vierte Quartal 2022 bereits im Minus war. Zwei schwache Quartale in Folge gelten bereits als sogenannte technische Rezession, auch wenn dieser Abschwung nicht wirklich ausgeprägt ist. Das vierte Quartal zum Jahresende 2023 soll wieder besser werden und einen kleinen Aufschwung bringen, der dann im nächsten Jahr 2024 weitergeht. So sehen das die Experten der Bundesbank und andere Ökonomen.

Was deutsche Unternehmen dazu sagen, dass es bei ihnen so schlecht läuft

Doch der ifo-Index, eine regelmäßige Umfrage bei vielen Unternehmen, die als der beste Indikator für das Wachstum in Deutschland gilt, lässt für das dritte Quartal und auch für das vierte Quartal nichts Gutes erwarten. Die Unternehmen vor allem in der Exportwirtschaft schätzen ihre Lage in vielen Bereichen als schwierig ein und nennen dabei vor allem die hohen Energiepreise.

So hat Deutschland im internationalen Vergleich mit die höchsten Strompreise. Was vor allem fehlt, ist das billige Erdgas aus Russland, das der Industrie jahrzehntelang einen Wettbewerbsvorteil verschaffte, weil es in Deutschland besonders leicht verfügbar war. Auch wenn es den Unternehmen nach eigenen Angaben schlechter geht, versuchen doch fast alle, ihre Beschäftigten zu halten.

Warum Jobabbau auch in nächster Zeit kein großes Thema mehr sein wird

Dafür gibt es zwei handfeste Gründe, der eine ist der Fachkräftemangel, der sich inzwischen zu einem allgemeinen Arbeitskräftemangel entwickelt hat. Der andere ist die drohende Überalterung der Beschäftigten durch die demographische Entwicklung. Vor allem im verarbeitenden Gewerbe, in der Industrie oder in der Bauwirtschaft wie im Handwerk sind viele Stammbelegschaften im Schnitt deutlich über 50 Jahre alt und kaum zu ersetzen. Hinzu kommt, dass ein Arbeitsplatzabbau wie in der Gastronomie oder in der Luftverkehrswirtschaft zu Zeiten der Corona-Pandemie ungeahnte langfristige Folgen hatte.

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die gehen mussten, fanden wegen des starken Arbeitsmarkts häufig schnell andere Jobs und verbesserten sich damit zum Teil sogar. Die Folge ist, dass diese Ex-Mitarbeiter nicht wieder zurückkommen und für ihre alten Branchen nicht mehr zur Verfügung stehen. Ein ähnliches Schicksal wie Lufthansa oder das Gastgewerbe könnte nun die Baubranche erleiden. Experten wie die von der Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt befürchten, dass Jobs in der aktuellen Baukrise wegen des drastischen Rückgangs von Neubauten bei den Wohnungen für immer verloren gehen. Wer einmal weg ist und etwas anderes gefunden hat, wird der IG BAU zufolge kaum in die Bauwirtschaft zurückkehren.

Höhere Energiepreise machen aktuell den größten Unterschied zu früher

Solche Probleme kann auch ein Bundeswirtschaftsminister nur bedingt lösen, etwa indem er versucht, den darniederliegenden Wohnungsbau anzukurbeln. Wenigstens beim Strom will Habeck gegensteuern. Sein verbilligter Industriestrompreis ist in der Berliner Ampelkoalition allerdings umstritten. Scholz ist eigentlich dagegen, die SPD gespalten, die Gewerkschaften sind dafür und die FDP will den Industriestrompreis nicht. Beim Gas muss man Habeck zugestehen, dass die Versorgungslage gesichert erscheint, was zu Beginn des Ukraine-Kriegs sehr kritisch war.

Andererseits wird das neue Gas, sofern es sich um verflüssigtes Erdgas LNG handelt, wesentlich teurer sein als das alte. Der Ölpreis, den Verbraucher am ehesten beim Tanken spüren, ist zwar nicht günstig, hat sich aber insgesamt moderat entwickelt. Aktuell denken viele wegen des Nahost-Konflikts an eine Verknappung der Erdöl-Lieferungen. Die könnte zum Beispiel Iran im Golf von Persien an der wichtigsten Schifffahrtsstraße von Hormus im Extremfall blockieren.

Starke Exportabhängigkeit der Wirtschaft ist zum Bumerang geworden

Habeck selbst nennt in seiner Erwiderung auf den “Economist”-Artikel noch viele andere Problemfelder, wie “die Fähigkeit meines Landes, sich selbst mit Bürokratie zu belasten”. In der Tat steht der Abbau von Bürokratie schon immer ganz oben auch auf der Wunschliste deutscher Unternehmen. Als weitere Aufgabenfelder beschreibt Habeck den Übergang zur Klimaneutralität, die fehlenden Fachkräfte aufgrund des demographischen Wandels und den Außenhandel: “Als Exportnation trifft es uns besonders hart, wenn Lieferketten unterbrochen werden und das Wachstum in China nachlässt.”

Anders als die USA, wohin zuletzt die meisten Exporte deutscher Unternehmen gingen, spielt China eine wichtige Doppelrolle. Es ist nicht nur der größte Zielmarkt für Maschinenbauer und Autohersteller, allen voran VW, Mercedes und BMW, die dort einen Großteil ihrer Gewinne erwirtschaften.

Abhängigkeit von China bei deutscher Wirtschaft mit am größten

China ist zugleich der wichtigste Lieferant von nahezu allem, was man sich vorstellen kann. So geht es beim weltberühmten “Made in Germany” für deutsche Exportunternehmen häufig darum, vor allem die Vorprodukte aus der Volksrepublik in den heimischen Hallen zu veredeln. Der Großteil der Wertschöpfungskette liegt oft im Ausland mit einem Schwerpunkt in China.

Einfacher gesagt ist der Löwenanteil bei der Herstellung eines Produkts dann nicht mehr das, was in Deutschland passiert. Was hier geplant wird oder am Ende eines langen Fertigungsprozesses noch zu tun ist, macht häufig nur einen Bruchteil aus. Bestes Beispiel sind die Batterien für Elektroautos und vor allem die Solarmodule auf deutschen Hausdächern, die fast allesamt aus China kommen.

China kann für Deutschland zu einem sehr großen Problem werden

Wenn es daher in der chinesischen Wirtschaft einmal schlechter läuft, etwa wegen der aktuellen Immobilienkrise dort, bekommen deutsche Unternehmen das deutlich zu spüren. Im letzten Jahr gelang es, umso mehr Waren in die USA zu liefern, die so zum wichtigsten Exportmarkt wurden. Außerdem soll Indien, das inzwischen am stärksten wächst, zu einem bedeutenden Zukunftsmarkt für Deutschland werden. Der Austausch von Waren und Dienstleistungen ist hier sicher noch ausbaufähig.

Hohe Zinsen treffen fast alle Länder gleichermaßen hart

Doch die größte Wachstumsbremse von allen ist wahrscheinlich in der Geldpolitik zu suchen. Mit einer beispiellosen Serie von Zinserhöhungen trieb zum Beispiel die Europäische Zentralbank ihren Leitzins in anderthalb Jahren von null auf 4,5 Prozent. Die Auswirkungen dieser drastischen Maßnahme zur Bekämpfung der Inflation, wie sie mit dem Ukraine-Krieg und der Energiekrise auftrat, haben wohl noch gar nicht voll auf die Wirtschaft durchgeschlagen.

Die Wucht dieser geldpolitischen Straffung dürfte erst langsam ihre Wirkung entfalten, heißt es bei den Experten der DWS-Fondstochter der Deutschen Bank zufolge. Das Ende der Zinserhöhungen in den USA und im Euroraum könnte erreicht sein, das Ende der Auswirkungen aber noch nicht. Als eine Art Kreditbremse liegt das nun wie Mehltau auf der Konjunktur in den kommenden Monaten.

Quelle : BR

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