Migrationskrise in Europa: Boot Mit 350 Flüchtlingen Auf Lampedusa Angekommen

Die griechischen Inseln, die Balkanroute, der Ärmelkanal: Neben den Fluchtbewegungen aus der Ukraine versuchen noch immer täglich Migranten, unter Lebensgefahr nach Europa zu gelangen.

Die neusten Entwicklungen

  • Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ist ein Flüchtlingsboot mit mehreren hundert Menschen angekommen. Das Boot mit 347 Migranten erreichte den Hafen in der Nacht auf Donnerstag (26. 10.) , wie die Behörden mitteilten. Es soll in Libyen gestartet sein. An Bord seien bis auf zwei Frauen ausschliesslich Männer gewesen. Sie stammen unter anderem aus Ägypten, Syrien, Pakistan und Bangladesh. Für die Überfahrt verlangten die Schleuser demnach bis zu 8000 Euro.
  • Tunesien hat von der EU-Kommission angekündigte Finanzhilfen in Millionenhöhe abgelehnt. Die Gelder sollten dem Land beim Kampf gegen irreguläre Migration helfen und dessen Haushalt stabilisieren. Tunesien «nimmt nichts an, was Gnaden oder Almosen ähnelt», sagte Präsident Kais Saied laut Mitteilung des Präsidialamts vom Montag (2. 10.). Die Ankündigungen der EU stünden im Widerspruch zur zuvor unterzeichneten Grundsatzvereinbarung. Worin Tunis genau einen Widerspruch sieht, wurde nicht kommuniziert. In Brüssel sorgten die Äusserungen für Unruhe. Ein ranghoher EU-Beamter sagte, möglicherweise gehe es Saied darum, dass ihm ein Hilfspaket in Höhe von einer Milliarde Euro in Aussicht gestellt worden sei, die EU-Kommission nun aber zunächst nur die Auszahlung von rund 127 Millionen Euro angekündigt habe. Tunesien ist eines der Haupttransitländer für Flüchtlinge aus Afrika mit Ziel Europa.
  • Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sind in diesem Jahr bereits etwa 186 000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Von diesen seien mit 130 000 die meisten in Italien registriert worden, was einem Anstieg von 83 Prozent im Vergleich mit dem Vorjahreszeitraum entspreche. Dies erklärte die Direktorin des UNHCR-Büros in New York, Ruven Menikdiwela, am Donnerstag (28. 9.) im Uno-Sicherheitsrat. Die Zahl der Vermissten und Toten im Zeitraum von Anfang Januar bis zum 24. September liege bei über 2500 Menschen. Laut Vereinten Nationen legten die meisten Migrantinnen und Migranten mit mehr als 100 000 aus Tunesien ab, über Libyen kamen über 45 000. Neben Italien steuerten die Boote auch Griechenland, Spanien, Zypern und Malta an.

Der russische Einmarsch in die Ukraine vom 24. Februar 2022 hat Fluchtbewegungen in Gang gesetzt, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt hat. Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind geflüchtet. Weiterhin suchen zudem andere Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten Zuflucht in Europa.

Laut den Vereinten Nationen sind über 5,8 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Europa registriert worden, ausserhalb Europas sind es weiter 370 000, weltweit insgesamt also rund 6,2 Millionen (Stand 6. 10. 23). Bei den Flüchtlingen handelt es sich in der Mehrzahl um Frauen und Kinder, da Männer zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen (Ausnahmen gibt es beispielsweise für Väter von drei und mehr Kindern).

Die ins Ausland Flüchtenden passieren zumeist die Grenze zu den westlichen Nachbarländern. Viele möchten auch dort bleiben, da sie auf ein baldiges Ende des Krieges in der Ukraine hoffen. In den ostmitteleuropäischen Staaten, die sich bisher mit der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten schwergetan haben, ist die Solidarität und Aufnahmebereitschaft gross.

Polen hat laut Angaben des UNHCR bisher über 1,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen (Stand 6. 10. 23). Grenzübertritte aus der Ukraine wurden über 15,4 Millionen registriert. Nach und über Ungarn sind rund 3,5 Millionen Flüchtlinge gekommen, als Flüchtlinge in Ungarn wurden über 53 000 Ukrainerinnen und Ukrainer registriert (Stand 6. 10. 23). Mehr als 1,7 Millionen Menschen aus der Ukraine flohen über die Slowakei, in dem Land sind mehr als 109 000 Ukrainer als Flüchtlinge registriert (Stand 6. 10. 23). Über die Moldau flohen über 950 000 Personen, wobei etwa 118 000 in der Moldau selbst als Flüchtlinge registriert sind. Über Rumänien flohen über 3,4 Millionen Menschen, rund 143 000 sind im Land registriert (Stand 6. 10. 23).

Nach Russland gingen über 2,8 Millionen Menschen, wobei die Zahlen für Russland letztmals Anfang Oktober 2022 erhoben wurden. In den russischen Satellitenstaat Weissrussland gingen rund 27 000 Menschen laut Zahlen der Vereinten Nationen (Stand 1. 5. 23). Unklar ist dabei, wie viele der Menschen freiwillig nach Russland und Weissrussland gegangen sind.

In Deutschland wurden bisher über 1 000 000 Menschen registriert (Stand 5. 7. 23). In der Schweiz meldet das Staatssekretariat für Migration Anfang Juni für 65 435 Personen den Schutzstatus S. In über 12 000 Fällen wurde der Schutzstatus S seit seiner Aktivierung beendet. Da eine nachhaltige Stabilisierung der Lage in der Ukraine auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist, wird der Schutzstatus S für Schutzsuchende aus der Ukraine nicht vor dem 4. März 2024 aufgehoben. Dies entschied der Schweizer Bundesrat am 9. November 2022.

Zudem gelten Millionen von Ukrainern als Binnenvertriebene, das UNHCR geht von über 6,5 Millionen Menschen aus (Stand Ende November). Die meisten sind in den Westen des Landes geflohen, der nicht im gleichen Ausmass von russischen Angriffen betroffen ist wie die anderen Landesteile. So haben Hunderttausende in der und um die westukrainische Stadt Lwiw Zuflucht gefunden.

Bis zum 11. April 2023 wurden zudem laut den Vereinten Nationen rund 11,6 Millionen Grenzübertritte in die Ukraine registriert. Dies bedeute allerdings nicht unbedingt, dass die Menschen dort auch längerfristig wieder bleiben könnten, schreibt das UNHCR.

Wie ist die rechtliche Lage der ukrainischen Flüchtlinge?

Am 3. März 2022 haben die EU-Innen- und -Justizminister in seltener Einigkeit beschlossen, Flüchtlingen aus der Ukraine vorübergehenden Schutz zu gewähren. Die EU-Richtlinie über den vorübergehenden Schutz (TPD) wurde damit zum ersten Mal angewandt. Sie wurde nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien eingeführt, um im Falle «eines Massenzustroms oder eines unmittelbar bevorstehenden Massenzustroms von Menschen in einen EU-Staat» eingesetzt werden zu können. Grossen Gruppen wird somit ein kollektiver Schutzstatus gewährt, der für ein Jahr (mit der Option der Verlängerung um drei Jahre) gilt, ein individueller Asylantrag muss nicht gestellt werden.

Viele Aufnahmestaaten möchten den Flüchtlingen schnell eine Perspektive bieten und sie in den Arbeitsmarkt integrieren, was durch die TPD-Richtlinie auch möglich ist. So bekommen Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz praktisch ohne Verzögerung eine Arbeitsbewilligung. Ähnlich sieht es in Deutschland und Österreich aus, wo die Flüchtlinge temporär vollen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten sollen. Kinder sollen in allen EU-Staaten schnell die Schule oder Kindergärten besuchen dürfen.

In welchen Regionen Europas sind besonders viele Migranten unterwegs, und wie ist die Lage dort?

2022 haben die illegalen Grenzübertritte in die Europäische Union deutlich zugenommen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex registrierte im vergangenen Jahr rund 330 000 solcher Übertritte. Das sei die höchste Zahl seit 2016 und ein Zuwachs um 64 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, teilte Frontex Mitte Januar 2023 mit. 2021 hatten fast 200 000 Migranten versucht, illegal in die EU zu gelangen.

Etwa die Hälfte der Migranten kamen dabei laut Frontex über die Westbalkanroute. Syrer, Afghanen und Tunesier stellten dabei mit 47 Prozent den grössten Anteil dar. Die Zahl der Syrer habe sich verdoppelt auf rund 94 000. Weniger als ein Zehntel der illegal Eingereisten seien Frauen, so Frontex.

Insgesamt stieg die Zahl der Asylanträge in der EU 2022 im zweiten Jahr in Folge deutlich. In den 27 Mitgliedstaaten wurden insgesamt 881 200 Erstanträge gestellt. Im Vergleich mit dem Vorjahr bedeutet dies ein Plus von 64 Prozent. Damals waren es 537 400 Anträge.

Griechische Inseln

2022 wurden in Griechenllingen und Migranten über die Türkei dokumentiert, davon über 6000 auf dem Landweg und mehr als 12 000 auf dem Seeweg. Bei den Ankünften auf dem Seeweg stammen laut Frontex rund 18 Prozent aus den palästinensischen Gebieten, 16 Prozent aus Afghanistan, 15 Prozent aus Somalia und knapp 10 Prozent aus Syrien. Zudem sind seit Beginn des Krieges Tausende von Ukrainerinnen und Ukrainern in Griechenland angekommen, viele von ihnen haben griechische Wurzeln.

Weil viele Inseln vor der türkischen Küste zu Griechenland gehören, versuchen fast täglich Migranten, per Boot auf diesem Weg in die EU zu gelangen. Wenn sie nicht von der Küstenwache abgefangen und zurückgeschickt werden (siehe unten unter «EU») oder ihr Boot kentert und sie ertrinken, stranden sie in Lagern auf den Inseln Samos, Lesbos, Chios, Kos oder Leros.

Bis zum 2. Juli 2023 wurden laut UNHCR 2109 illegale Einreisen über die Landgrenze am Evros registriert. 2771 Personen kamen auf Lesbos an, 543 auf Chios, 712 auf Samos, 241 auf Leros, 795 auf Kos und 506 auf Rhodos.

Drittstaatenangehörige oder Staatenlose, die ohne gültige Papiere auf die griechischen Inseln kommen, werden zunächst von den Behörden in sogenannten Empfangs- und Identifikationszentren untergebracht. Dort können sie einen Asylantrag stellen. Die Zentren können sie nicht verlassen, die maximale Dauer des Aufenthalts beträgt dort 25 Tage. Nach Abschluss des Identifikations- und Registrierungsverfahren werden sie auf das Festland gebracht, wo entweder die regionalen Asylbehörden weiter zuständig sind oder die Abschiebung eingeleitet wird.

Des Weiteren gibt es auf den Inseln seit 2021 die sogenannten «geschlossenen Zentren mit kontrolliertem Ausgang», die mit finanzieller Unterstützung der EU gebaut wurden. Auf Samos beispielsweise ist das Zentrum von Stacheldraht umzäunt, Überwachungskameras sind installiert. Migranten, deren Asylantrag abgelehnt wurde, dürfen die Zentren nicht verlassen. Andere Schutzsuchende, die noch auf den Bescheid warten, dürfen sich nur tagsüber ausserhalb des Camps aufhalten. Auf Samos ist die nächste Stadt rund zehn Kilometer entfernt.

Während die Regierung in Athen betont, wie sehr sich die Bedingungen für die Migranten im Vergleich zu den alten Lagern verbessert hätten, kritisieren Menschenrechtsorganisationen das eingeschränkte Recht auf Bewegungsfreiheit, die permanente Kontrolle und die Isolierung der Menschen in den Zentren.

Die Zahl der Migranten, die auf den griechischen Inseln in der Ostägäis leben, geht derzeit allerdings immer weiter zurück. In den und um die Registrierungslager auf Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros befinden sich laut Regierungsangaben vom Dezember 2021 nur noch rund 3500 Personen. Im Dezember 2020 waren es noch rund 17 000 Menschen, allein 7100 davon auf Lesbos. Grund für den Rückgang ist, dass die griechische Regierung vor allem Ältere, Kranke und Familien von den Inseln aufs Festland holt; viele haben mittlerweile Asyl erhalten.

In dem provisorischen Lager Kara Tepe auf Lesbos hatten die griechischen Behörden nach dem Brand im berüchtigten Lager Moria Anfang September 2020 ein Ausweichlager errichtet. Laut Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Oxfam sind die Bedingungen in Kara Tepe jedoch keineswegs besser: Die Menschen, die meisten von ihnen Familien mit Kindern, schlafen laut den Angaben in einfachen Zelten, es gibt kein fliessendes Wasser, keine Duschen und zu wenige Toiletten. Zudem litten viele Babys und Kinder an chronischen Krankheiten wie Herzkrankheiten, Asthma und Diabetes.

Das direkt am Meer errichtete Lager wurde durch Wellen, heftige Regenfälle und Schneeschmelze bereits mehrmals überspült. Es ist von Stacheldraht umzäunt und wird ständig überwacht. Wegen der Corona-Pandemie gilt eine Ausgangssperre. Die Menschen dürfen nicht einmal selber kochen wegen der Feuergefahr. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist völlig unzureichend. Laut Human Rights Watch ist das Gelände, das teilweise früher als Truppenübungsplatz für das griechische Militär diente, zudem mit Blei verseucht.

Griechisch-türkisches Grenzgebiet

Griechenland hat im August 2021 einen 40 Kilometer langen, elektronisch überwachten Metallzaun an der Grenze zur Türkei fertiggestellt. Seither wird daran gearbeitet, den Zaun um 140 weitere Kilometer zu verlängern. Jenseits der Grenzen patrouillieren türkische und griechische Sicherheitskräfte, letztere unterstützt von Einheiten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.

Im August 2022 versuchten mehr als 36 000 Migranten illegal über den Grenzfluss Evros in die Europäische Union zu gelangen. Der griechische Bürgerschutzminister meldete am 30. August, dass seit Jahresbeginn rund 154 000 Menschen daran gehindert worden seien, auf diesem Weg von der Türkei nach Griechenland zu kommen. Zudem seien in diesem Zeitraum 852 mutmassliche Schleuser festgenommen worden.

Libysche Küste

Libyen hat sich zum zentralen Transitland für Migranten auf dem Weg nach Europa entwickelt. Von hier aus versuchen immer wieder Flüchtlinge und Migranten die gefährliche Überfahrt nach Italien. Viele von ihnen greift die libysche Küstenwache auf und bringt sie zurück in das nordafrikanische Land. Seit dem Sturz des Langzeitherrschers Muammar al-Ghadhafi im Jahr 2011 herrschen dort Bürgerkrieg und Chaos. Nichtregierungsorganisationen, aber auch das Uno-Menschenrechtsbüro kritisieren seit langem, dass Libyen kein sicherer Ort für Migranten ist. Die Menschen würden in Lager gebracht und oft misshandelt, gefoltert und missbraucht.

Laut den neusten Zahlen des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR vom 1. November 2022 befinden sich mehr als 43 000 registrierte Flüchtlinge und Asylbewerber in Libyen. In den ersten zehn Monaten des Jahres 2022 sind über 20 700 Flüchtlinge und Migranten von der libyschen Küstenwache und anderen Institutionen gerettet worden, wobei Rettung bedeutet, dass die Flüchtlinge in die Internierungslager nach Libyen zurückgebracht werden. Die libysche Küstenwache wird von der EU unterstützt, immer wieder gibt es aber Berichte über kriminelles Verhalten.

Laut der EU-Kommission sind seit Anfang Jahr mehr als 90 000 Menschen über Länder wie Libyen und Tunesien in die EU gekommen (Stand 21. 11.). Die meisten Migranten kommen dabei in Italien an, sehr wenige auch in Malta.

Tunesische Küste

Tunesien ist wegen seiner relativen Nähe zur EU-Aussengrenze ebenfalls ein wichtiges Transitland. Von der Küstenstadt Sfax sind es nicht einmal 200 Kilometer bis Lamepedusa. In den ersten vier Monaten des Jahres 2023 ist die Zahl der von der tunesischen Küsten startenden Migranten in die Höhe geschnellt. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex spricht von einer Steigerung um das Zehnfache im Vergleich zu den ersten vier Monaten 2022. Allein von Januar bis März 2023 riskierten laut Angaben der Vereinten Nationen 12 000 Menschen die Überfahrt, wobei Dutzende von ihnen ums Leben kamen.

Laut Beobachtungen von Frontex setzen Schlepper aus Tunesien zunehmend auf billige, in Windeseile zusammengeschweiste Blechboote, die kaum seetauglich sind. Im Gegensatz zu einem grösseren Schiff zahlen die Migranten hier «nur» um die 500 Euro.

Unter den Flüchtlingen sind nicht nur Migranten aus Subsahara-Afrika, sondern auch Tunesier selber, die in ihrer von wirtschaftlichen Schwierigkeiten geplagten und zunehmend autoritär regierten Heimat keine Perspektive sehen. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell warnte jüngst: «Wenn Tunesien wirtschaftlich oder sozial zusammenbricht, werden wir in eine Situation geraten, in der neue Migrantenströme nach Europa kommen werden».

Ceuta und Melilla – spanische Exklaven in Nordafrika

Die «autonomen Städte» Ceuta und Melilla befinden sich an der nordafrikanischen Küste, sind aber spanische Exklaven und gehören somit zur Europäischen Union. Sie rücken immer dann in den Fokus, wenn Marokkaner oder Migranten, die es nach Marokko geschafft haben, in grossen Gruppen versuchen, die Orte umgebenden Zäune und Mauern zu überwinden. Die EU zahlt an Marokko Finanzhilfen für den Grenzschutz.

Kanarische Inseln

Bis Mitte September 2022 sind laut dem spanischen Innenministerium mehr als 11 500 Personen von der afrikanischen Westküste aus in Richtung der Kanarischen Inseln gestartet. Bei der Überfahrt kommt es immer wieder zu tödlichen Unfällen. Laut der NGO Maleno ertranken 900 Migranten allein im ersten Halbjahr 2022. Die Organisation für Migration IOM zählt für den Zeitraum Anfang 2021 bis Oktober 2022 mehr als 1530 Tote auf dieser Route.

Die spanische Regierung hat mittlerweile mehrere Lager auf Gran Canaria, Teneriffa und Fuerteventura als provisorische und dauerhafte Unterkünfte für Flüchtlinge und Migranten errichtet. Die Menschen prinzipiell aufs Festland zu bringen, lehnt sie ab.

Ärmelkanal

Im Jahr 2022 sind mehr als 41 000 Menschen unerlaubt über den Ärmelkanal nach Grossbritannien gelangt. Um die illegale Einwanderung über den Ärmelkanal zu begrenzen, hat die britische Regierung Mitte November 2022 einen Vertrag mit Frankreich geschlossen, der vorsieht, dass britische Beamte als Beobachter nach Frankreich entsendet werden und umgekehrt. 2022 war ein erstaunlicher Anstieg der Zahl von Migranten aus Albanien zu verzeichnen, die fast ein Drittel der über den Ärmelkanal ankommenden Migranten darstellten.

Die britische Regierung hat im Frühling 2022 einen umstrittenen Vertrag mit Rwanda geschlossen, der vorsieht, dass Asylbewerberinnen und Asylbewerber, die älter als 18 sind und «illegal» nach Grossbritannien eingereist sind, nach Ostafrika geflogen werden und dort auf den Ausgang ihres Verfahrens warten müssen. Eine Gruppe Flüchtlinge klagte gegen das Vorhaben. Bis zum Abschluss der gerichtlichen Überprüfung ist das Vorhaben auf Eis gelegt.

Was bedeutet die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan für die europäischen Länder?

Die Eroberung fast aller afghanischen Provinzen einschliesslich der Hauptstadt Kabul durch die Taliban im August 2021 hat grosse Teile der dortigen Bevölkerung in Panik versetzt. Die Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen sind Binnenvertriebene. Doch Millionen von Afghanen leben auch als Flüchtlinge ausserhalb des Landes, viele in den Nachbarländern Pakistan und Iran.

Doch auch nach Europa brechen immer wieder Afghanen auf. Die Türkei beherbergt schätzungsweise über 300 000 afghanische Flüchtlinge (sie stellen die grösste Gruppe nach den rund 3,6 Millionen Syrern). In Deutschland stieg die Zahl der Asylanträge im Jahr 2022 um rund 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die meisten Erstantragssteller kamen aus Syrien (knapp 71 000), es folgten Schutzsuchende aus Afghanistan (36 358). Flüchtlinge aus der Ukraine müssen keinen Asylantrag stellen.

Wie ist die Situation an der polnisch-weissrussischen Grenze?

Im Sommer 2021 versuchten mehrere tausend Flüchtlinge und Migranten, von Weissrussland über die polnische Grenze in die EU zu gelangen. Der weissrussische Autokrat Alexander Lukaschenko stand in der Kritik, die Migranten gezielt aus Krisengebieten nach Minsk einfliegen zu lassen und dann weiter an die Grenze zu bringen. Besonders Jesiden und Kurden aus dem Nordirak ergriffen die Chance, über Minsk nach Europa zu kommen. Die Krise an der Grenze entstand im Kontext von Spannungen zwischen Lukaschenko und der EU, nachdem Lukaschenko Demonstrationen gegen die gefälschte Wahl gewaltvoll niedergeschlagen hatte.

Danach sah sich Polen, aber auch Litauen mit einem Zustrom von Migranten und Flüchtlingen konfrontiert. Beide Länder trieben den Bau von Zäunen entlang ihrer Grenzen zu Weissrussland voran.

Welche Rolle spielt die Balkanroute?

Im Jahr 2022 haben wieder deutlich mehr Menschen versucht, über Südosteuropa in den Schengenraum zu gelangen. Laut den Vereinten Nationen waren zwischen Januar und November 2022 über 34 300 Menschen entlang der Balkanroute unterwegs, was 22 Prozent mehr sind als im Vorjahreszeitraum. Die Mehrheit der Migrantinnen und Migranten auf der Route stammte aus Afghanistan (über ein Drittel), Marokko (14 Prozent) und Syrien (11 Prozent).

Dies spürt man auch in Deutschland, der Schweiz und in Österreich. Laut Angaben der damaligen Schweizer Justizministerin Karin Keller-Sutter vom September 2022 liegt die Zahl der aufgegriffenen Migranten im Westbalkan für die erste Jahreshälfte dreimal so hoch wie im Vorjahr. Die Schweiz dient allerdings mehrheitlich als Transitland. In Bayern haben sich laut Justizministerium die Ankünfte bis im Herbst 2022 gegenüber dem Vorjahr verfünffacht.

Als neuer Flüchtlings-Hotspot hat sich in den letzten zwei Monaten des Jahres 2022 auch das norditalienische Triest erwiesen. Rund 5000 Personen suchten hier Zuflucht, die zuvor über die Balkanroute gekommen waren.

Die Balkanroute war erstmals im Herbst 2015 in den Fokus geraten, als sich Hunderttausende von Flüchtlingen und Migranten auf dem Landweg auf nach Westeuropa machten. Sie wählten entweder die östliche Route von der Türkei über Bulgarien und Rumänien nach Serbien oder starteten in Griechenland, um via Nordmazedonien nach Serbien zu kommen. Ziel war es, Ungarn und Österreich zu erreichen, um dann weiter nach Deutschland und in andere Länder zu gelangen.

Eine Begründung für den Wiederanstieg der Migration über die Balkanroute sind unter anderem die liberalen Visabestimmungen in Serbien. Das Land dient als Drehscheibe für Migranten aus Ländern wie Tunesien, Ägypten, Indien, Burundi oder Kuba, weil sie für die Einreise kein Visum benötigen, in die EU jedoch schon. Im Herbst 2022 beugte sich Serbien jedoch dem Druck der EU und widerrief Visaabkommen mit vier der Staaten.

Immer wieder gibt es Vorwürfe gegen die kroatische Grenzpolizei, die Migranten unter Schlägen und weiterer Gewaltandrohung brutal zurückgewiesen zu haben. Seit dem 1. Januar 2023 ist Kroatien Mitglied des Schengenraums. Bereits vorher gefiel sich der jüngste EU-Mitgliedstaat in einer besonders restriktiven Migrationspolitik. So gibt es dokumentierte Fälle, dass Migranten nackt zurück nach Bosnien-Herzegowina geschickt wurden. Ein Anfang Dezember 2021 veröffentlichter Bericht des Antifolterkomitees des Europarates bestätigte diese Vorwürfe.

Wie viele Menschen sind unterwegs, und wie viele von ihnen kommen ums Leben?

Seit 2014 hat die Uno-Organisation für Migration (IOM) auf Migrationsrouten in aller Welt mehr als 50 000 Todesfälle und Vermisstenfälle dokumentiert. Die Zahl dürfte höher liegen, weil nicht alle Fälle aktenkundig werden.

Die Hälfte der Menschen kamen auf den Migrationsrouten über das Mittelmeer nach Europa ums Leben, das geht aus der IOM-Statistik hervor. Im ersten Halbjahr 2023 hat die Internationale Organisation für Migration so viele Todesfälle auf diesen Migrationsrouten registriert wie zuletzt im Jahr 2017. Insgesamt kamen in den ersten sechs Monaten des Jahres mindestens 1874 Menschen um oder werden vermisst. Vergangenes Jahr waren es im gleichen Zeitraum 1108.

Im zentralen Mittelmeer kamen laut IOM zwischen Anfang 2021 und Oktober 2022 mindestens 2836 Personen ums Leben oder gelten als vermisst. Auf der Westafrika-Atlantik-Route Richtung Kanarische Inseln wurden im selben Zeitraum über 1500 Tote registrierst. Aber auch an der türkisch-griechischen Landgrenze wurden 126 Todesfälle gemeldet, auf der Westbalkanroute 69, über den Ärmelkanal 53, an der Grenze zwischen Weissrussland und der EU 23.

Weltweit galten nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Uno (UNHCR) Mitte des Jahres 2022 rund 103 Millionen Menschen als gewaltsam vertrieben. Im Vergleich zum Stand von Ende 2021 waren damit 13,6 Millionen Menschen mehr auf der Flucht als im Vorjahr. Ein Hauptgrund für die enorme Steigerung war der russische Überfall auf die Ukraine, durch den rund 12 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zu Vertriebenen im In- und Ausland wurden.

42 Prozent aller weltweit Geflüchteten sind laut UNHCR Kinder, die damit überproportional von Vertreibung betroffen sind (stellen sie doch nur 30 Prozent der Weltbevölkerung). 69 Prozent aller Flüchtlinge leben in den Nachbarländern.

Die Türkei hat mit fast 3,7 Millionen Menschen die grösste Flüchtlingszahl weltweit aufgenommen. Kolumbien hat 2,5 Millionen Menschen, die allermeisten aus dem benachbarten Venezuela, aufgenommen. Danach folgt Deutschland, das 2,2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Je 1,5 Millionen Flüchtlinge befinden sich in Uganda und Pakistan.

Welche Rolle spielen private Seenotrettungsorganisationen?

Das internationale Seerecht verpflichtet jeden Kapitän auf hoher See bei Schiffbrüchigen zu sofortiger Hilfeleistung. Die Meere sind in sogenannte Seenotrettungszonen unterteilt. Wenn eine Person in dieser Zone gerettet wird, muss der Staat eine weitere Rettungsaktion koordinieren. Unklar ist, inwieweit der Staat die Geretteten sicher ausschiffen muss.

Derzeit gibt es kein europäisches Seenotrettungssystem. Mittlerweile eingestellte Programme wie «Mare Nostrum» der italienischen Marine, die EU-Nachfolgeoperation «Triton» oder die «Operation Sophia» dienten in erster Linie dem Grenzschutz und der Bekämpfung von Schleppertätigkeiten. Jedoch wurden dabei auch immer wieder schiffbrüchige Migranten gerettet.

Seit dem Ende der Marinemission der EU («Sophia») im März 2019 sind auf dem Mittelmeer nur noch Schiffe privater Hilfsorganisationen mit diesem Ziel unterwegs. Ihr rechtlicher Status ist jedoch kompliziert. Die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex, deren Mandat keine Such- und Rettungsmassnahmen vorsieht, sprach 2017 in einem Bericht davon, dass private Seenotretter «ungewollt Kriminellen helfen, ihre Ziele mit minimalen Kosten zu erreichen, und das Businessmodell der Schlepper stärken, indem sie die Erfolgschancen steigern». Das UNHCR dagegen unterstützt bereits seit 2016 private Missionen, da man dort der Überzeugung ist, dass es ohne die privaten Retter noch mehr Tote gäbe.

Generell müssen private Seenotretter damit rechnen, dass ihr Handeln kriminalisiert wird. Es dauert meist Tage oder Wochen, bis sich ein Staat erklärt, ein Schiff mit Migranten anlegen zu lassen. Italien und Malta haben Rettungsschiffen privater Helfer wiederholt das Anlegen in ihren Häfen verwehrt. Die deutsche Kapitänin Carola Rackete wurde im Juni 2019 vorübergehend festgenommen, nachdem sie ihr Rettungsschiff mit 40 Migranten an Bord ohne Genehmigung in den Hafen der italienischen Insel Lampedusa gesteuert hatte. Im Januar 2020 wies das Oberste Gericht in Italien die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen ihre Freilassung ab.

Im Januar 2023 wurde ein Prozess gegen mehrere zivile Seenotretter auf der Insel Lesbos eingestellt, unter ihnen der deutsch-irische Seenotretter Seán Binder und die syrische Leistungsschwimmerin Sarah Mardini. Die Freiwilligen sollen laut dem Uno-Menschenrechtsbüro zwischen 2016 und 2018 Hunderten von Flüchtlingen auf dem Weg über das Mittelmeer nach Griechenland das Leben gerettet haben. Die griechische Staatsanwaltschaft warf ihnen unter anderem Menschenschmuggel und Spionage vor. Das Gericht verwarf die Spionagevorwürfe als zu vage. Zudem sei die Anklageschrift nicht für die ausländischen Angeklagten übersetzt worden.

Welche Strategie verfolgt die EU?

Die EU versucht, mit der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, kurz Frontex, ihre Aussengrenzen zu schützen. Um die Zahl neu ankommender Migranten generell stark zu begrenzen, geht sie zudem auch Vereinbarungen ein, die aus ethisch-humanitärer Sicht zumindest fragwürdig sind. So kooperiert sie zum Beispiel mit dem Bürgerkriegsland Libyen. Das Regime in Tripolis und die sogenannte Küstenwache, die in kriminelle Aktivitäten aller Art verstrickt sein soll, werden finanziell unterstützt dafür, möglichst viele Flüchtlinge im Land zu behalten und sie nicht über das Mittelmeer in die EU gelangen zu lassen. Dafür nimmt die EU in Kauf, dass die Migranten und Flüchtlinge in libyschen Lagern massiver physischer und sexueller Gewalt ausgesetzt sind, die gut dokumentiert ist.

Laut den sogenannten Dublin-Regeln ist derjenige EU-Staat für Migranten zuständig, den diese zuerst erreichen. Doch kann sich die EU seit Jahren nicht auf eine verbindliche Quote zur Verteilung von Asylbewerbern auf EU-Mitgliedsländer einigen. Ein Verteilschlüssel soll laut einem Beschluss des Europäischen Rates vom 22. September 2015 auf vier Kriterien beruhen, nach denen bis zu 120 000 Flüchtlinge verteilt werden würden (die Prozente geben an, wie stark ein Kriterium gewichtet wird):

  • Bevölkerung (40 Prozent)
  • Bruttoinlandprodukt (40 Prozent)
  • Anzahl von Asylanträgen und Flüchtlingen pro Million Einwohner (10 Prozent)
  • Arbeitslosenquote (10 Prozent)

Immer wieder kommt es laut Aussagen von Migranten sowie Flüchtlingsorganisationen und Juristen auch zu sogenannten Pushbacks an den Aussengrenzen der EU: Flüchtlinge und Migranten würden zurückgewiesen, ohne die Chance zu haben, einen Asylantrag zu stellen. Berichte von solchen Verdrängungen gibt es aus den nordafrikanischen Enklaven Spaniens, aus Malta im Mittelmeer, aus Kroatien an der bosnischen Grenze und aus Griechenland an der See- und Landgrenze zur Türkei. Die beschuldigten Staaten wiesen die Anschuldigungen jeweils vehement von sich.

In der Meinung vieler Juristen verstossen Pushbacks gegen Völker- und EU-Recht. Die Genfer Konvention besagt, dass Flüchtlinge nicht in Gebiete zurückgewiesen werden können, in denen ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht ist.

Tatsächlich haben sich aber mehrere Staaten in Ostmitteleuropa gegen diesen Beschluss gesperrt und tun dies weiterhin. Entsprechend wird der Verteilschlüssel bis jetzt nicht angewandt.

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