Nach den längsten Streiks in der Geschichte des britischen Gesundheitssystems können sich Assistenzärzte über 22 Prozent mehr Lohn freuen. Doch deutsche Kollegen verdienen immer noch deutlich mehr.
35 Prozent mehr Lohn für Assistenzärzte – mit dieser Forderung ist die British Medical Association (BMA) in den Tarifstreit eingetreten. 22 Prozent mehr dürften es nun werden. Darauf haben sich die neue Regierung und die als Gewerkschaft fungierende Interessenvertretung BMA geeinigt. Die BMA-Mitglieder müssen die Abmachung noch absegnen.
Rekordstreik in Großbritannien
Vorangegangen war der Einigung ein mit harten Bandagen geführter Arbeitskampf. Immer wieder hatten die Assistenzärzte in den vergangenen anderthalb Jahren das britische Gesundheitswesen mit tagelangen Streiks lahmgelegt.
Zu Beginn des Jahres legten die Assistenzärzte sogar für sechs Tage am Stück ihre Arbeit nieder – es war der längste Streik in der über 75-jährigen Geschichte des britischen Gesundheitsdiensts (National Health Service – NHS). Der Arbeitskampf fiel ganz bewusst in eine der arbeitsreichsten Zeiten des Jahres, so wollten die “Junior Doctors” ihren Forderungen mehr Gewicht verleihen.
Reallöhne der Assistenzärzte zuletzt drastisch gesunken
Eine Lohnforderung von 35 Prozent: Das hört sich zunächst dramatisch an. Doch der BMA verweist auf eine einfache Prozentrechnung: Danach müssten die Gehälter der Assistenzärzte um 35 Prozent steigen, um den realen Lohnverlust der vergangenen 15 Jahre auszugleichen. Seit 2008 seien die Reallöhne, also die Nominallöhne abzüglich der Inflation, nämlich um 26,3 Prozent gesunken.
Berechnungen der Financial Times für den Zeitraum 2009 bis 2023 kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Danach brachen die Reallöhne für “Junior Doctors” in diesem Zeitraum um 24 Prozent ein, Krankenschwestern verdienten real 13 Prozent weniger. Zum Vergleich: Britische Arbeiter mussten “nur” einen Rückgang ihres Reallohns um 2,5 Prozent hinnehmen.
Experten: NHS wurde “kaputtgespart”
Der britische Gesundheitsdienst befindet sich Experten zufolge in einer katastrophalen Verfassung. Die konservativen Regierungen hätten in den vergangenen Jahren den NHS “kaputtgespart”. Elaine Kelly vom Thinktank Health Foundation sagte der Financial Times, es würde die neue Regierung 9,3 Milliarden Pfund kosten, um die Reallöhne im NHS wieder auf die Niveaus von 2010 zu bringen.
Doch nicht nur die Beschäftigten des britischen Gesundheitswesens leiden unter der Situation, sondern auch die “Kunden” des NHS: Einer aktuellen Studie des National Centre for Social Research zufolge sind nur noch 24 Prozent der britischen Bevölkerung mit dem NHS zufrieden – so wenige wie noch nie seit Beginn der Datenerhebung 1983. Der Hauptgrund: zu lange Wartezeiten für einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt oder im Krankenhaus.
Und daran dürfte sich so schnell auch nichts ändern. Laut einer Studie des Thinktanks Public Policy Research von 2023 wird es eine ganze Dekade brauchen, um den Rückstand im NHS abzubauen und die Wartelisten wieder auf das Level von 2010 zu bringen, berichtete The Guardian.
Deutsche Assistenzärzte verdienen deutlich mehr
Dazu braucht es auch mehr (angehende) Ärzte – doch mit Blick auf den Lohn für Assistenzärzte ist Großbritannien als Arbeitsplatz im internationalen Vergleich nur wenig attraktiv. So verdienen britische Assistenzärzte nach Angaben der Regierung in ihrem ersten Berufsjahr etwa 32.000 Pfund (etwa 37.000 Euro).
Das entspricht gut 3.000 Euro brutto pro Monat. Zum Vergleich: In Deutschland liegt laut dem aktuellen Tarifvertrag für Ärzte das Einstiegsgehalt als Assistenzarzt im ersten Jahr – je nach Arbeitgeber – bei 5.063 Euro bis 5.490 Euro brutto im Monat. Hinzu kommt: Deutsche Ärzte haben sich für ihre Ausbildung in der Regel nicht drastisch verschulden müssen, wie es in Großbritannien mit Blick auf die hohen Studiengebühren gang und gäbe ist.
Ärzte wandern nach Neuseeland und Australien aus
Doch nicht nur in “Germany” locken Assistenzarztstellen mit mehr Lohn, sondern auch im englischsprachigen Ausland: “Die USA bieten als Anfangsgehalt umgerechnet knapp 42.000 Pfund, Kanada 46.000 Pfund und Australien 44.000 Pfund, ähnlich Neuseeland”, berichtete ZEIT online. Vor allem Australien, aber auch Neuseeland werben britische Ärzte gezielt ab – mit Erfolg.
Mittlerweile arbeiten etwa 18.000 in Großbritannien ausgebildete Ärzte in Übersee – das sind 50 Prozent mehr als 2008. In anderen Worten: Jeder siebte auf der Insel ausgebildete Arzt praktiziert außerhalb Großbritanniens. Das sind dreimal so viele Ärzte wie in anderen europäischen Ländern.