Nahost-Experte Nadim Rai über den Blick der arabischen Welt auf die WM, die Boykott-Debatte im Westen und Schadenfreude über das deutsche Ausscheiden.
Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar wird in großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit kritisch diskutiert. Wie schaut die arabische Welt auf die WM?
Viele Fußballfans aus der Region freuen sich über die WM und zwar aus verschiedenen Gründen. Es gibt die arabisch-nationalistischen Fans, die sagen: Hauptsache in einem arabischsprachigen Land. Es gibt andere, die begrüßen, dass die WM in der muslimischen Welt stattfindet – die hätten sich genauso über Indonesien als Gastgeber gefreut. Und trotz der Spannungen in letzter Zeit – es gab ja zwischen 2017 und 2021 eine regionale Blockade Katars – freuen sich auch Fußballfans aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Oman, dass die WM in der Region stattfindet. Viele von ihnen nutzen gerne die kurze Distanz, um die Spiele zu besuchen – auch, wenn ihr Land nicht dabei sein sollte.
Wie wird der Gastgeber und seine Mannschaft gesehen? In der Gruppenphase gab es Bilder der „arabischen Kurve“, die sich aus Fans mehrerer nordafrikanischer Länder zusammengesetzt haben soll.
Bei der arabischen Kurve handelt es sich um eine Initiative von Seiten Katars. Sie bestand aus Menschen, die wochenlang für die WM „trainiert“ haben. Der Anführer dieser Gruppe kommt aus dem Libanon und ist dort Vorsänger von den Ultras Supernova des Clubs Nejmeh. Bei den Mitgliedern handelt es sich größtenteils um Fans aus dem nordafrikanischen Raum: aus Tunesien, Ägypten oder Algerien, die jedoch in Katar leben und arbeiten. Das war also schon alles ein Stück weit inszeniert. Die Ultras, also die fanatischen Fußballanhänger, in der arabischen Welt, stehen jedoch tatsächlich mehrheitlich hinter Katar. Sie reisen vielleicht nicht extra zu den Spielen an, supporten den Gastgeber aber aus den Kurven in den Stadien zu Hause. So zeigten zum Beispiel die Ultras Greens von Al Wehdat aus Jordanien und die Fans von Al-QuwaAl-Dschawiya FC aus dem Irak bereits vor der WM Banner und Blockfahnen zur Unterstützung Katars – explizit als Gegenaktion zu „Boykott Katar“.
Wie schaut man in der Region auf die Debatten rund um die WM, wie sie in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern geführt werden?
Die Debatte in der arabischen Welt ist eine komplett andere. Große Medienanstalten, wie zum Beispiel Al-Jazeera aus Katar und Al Arabiya aus Saudi-Arabien kritisieren die teils absurden Argumente, die aus dem Westen gegenüber der WM in Katar hervorgebracht werden. Ein Argument, das von ein paar Fußballfans aus Westeuropa genannt wird, ist, dass die WM nicht im Winter stattfinden sollte. Man könne sich nicht vorstellen, auf dem Weihnachtsmarkt zu stehen und beim Glühwein WM zu gucken. Das wird von einigen arabischen Medien aufgegriffen. Die sagen: „Guckt euch diese eurozentristischen Leute an.“ Wenn die WM immer im europäischen Sommer stattfände, schließt das jedoch nicht nur Katar, sondern eine ganze Reihe anderer Länder aus, die nicht als Gastgeber infrage kämen. So wird die Boykott-Debatte in vielen arabischen Medien dargestellt.
Die Ultras in der arabischen Welt stehen mehrheitlich hinter Katar.
Ein Argument, dass meiner Meinung nach einen Boykott rechtfertigt, ist die Menschenrechtssituation, vor allem in Bezug auf Bauarbeiter und Homosexuelle. In der arabischen Welt wird jedoch größtenteils keine Debatte über die Rechte der Bauarbeiter geführt. Im Vordergrund steht vielmehr das Argument, man biete Arbeit für Menschen, die diese nötig haben. Was Homosexualität angeht, muss man klar sagen: In vielen arabischen Ländern sind die Menschen stolz auf ihre konservativen Werte und unterstützen, dass dies nicht toleriert wird. Das Versprechen, dass alle willkommen seien, ist eigentlich eine große Fassade. Der katarische WM-Botschafter, der von einem „geistigen Schaden“ sprach, ist einer der wenigen Offiziellen, der sein wahres Gesicht gezeigt hat. Die Bevölkerung steht jedoch voll dahinter. Jedes Verbot der Regenbogenflagge wird gefeiert und als Sieg empfunden.
Wie kommen die moralischen Argumente, die aus dem Westen hervorgebracht werden, in der arabischen Welt an?
Das Thema, das eine große Rolle spielt in der arabischen Welt, ist nicht Moral, sondern Doppelmoral. Man muss nur mit Menschen aus dem Irak sprechen: Die haben 2003 und die Kriegsverbrechen der Amerikaner noch gut im Kopf. Viele in der arabischen Welt haben wirklich die Schnauze voll davon, dass man aus dem Westen mit dem Finger auf sie zeigt und ihnen sagt, wie es besser gemacht werden sollte. Sie können es nicht mehr ertragen, dass der Westen ständig die Menschenrechtslage kritisiert, obwohl das natürlich im Einzelfall berechtigt ist. Aber sie wollen das nicht vom Westen hören. Würde die Kritik zum Beispiel aus der Türkei kommen, dann würden die Menschen da viel eher zuhören. Die Kritik aus dem Westen wird jedoch direkt abgeblockt – auch wenn es sich um valide Argumente handelt.
Das Versprechen, dass alle willkommen seien, ist eigentlich eine große Fassade.
Wie wurde das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft in der arabischen Welt aufgenommen?
Mit Schadenfreude. Zumindest von denjenigen, die nicht Deutschland-Fans sind. Einige Journalisten aus den Golfstaaten machten sich über die deutsche Nationalmannschaft auf ihren Social-Media-Kanälen lustig. Sie begründeten das Ausscheiden damit, dass die Deutschen sich nicht auf das Fußballspielen konzentriert haben.
In Deutschland wird der Fußball immer politischer diskutiert – vor allem in den Medien. Sie forschen zu Fankultur und Fußball in der arabischen Welt. Wie politisch ist der Fußball dort?
Der Fußball ist ebenfalls politisch, aber in einer anderen Art und Weise. In der westlichen Welt hat sich der Fußball von seinem Ursprung entfernt. Wir reden hier von einem Produkt, das sehr kapitalistisch aufgebaut ist. Viele Geschäftsführer deutscher, englischer, französischer und italienischer Clubs sehen, dass Fußball ein Produkt ist und dass man daraus Gewinne generieren muss. Als Reaktion gehen die Fans auf die Straße und protestieren, und das wird dann automatisch zu einem politischen Thema. In der arabischen Welt ist das anders. Dort gibt es kaum wirtschaftliches Potenzial im Fußball, das ausgeschöpft werden könnte, zumindest in den meisten Ländern.
In Syrien zum Beispiel war noch nie etwas zu gewinnen im Fußball – weder Fernsehgelder noch große Verträge. Die Unzufriedenheit der arabischen Fußballfans hat nichts mit der Entwicklung des Fußballs an sich, sondern mit der Entwicklung der gesellschaftlichen Lage in den jeweiligen Ländern zu tun. Diese nutzen das Stadion als Versammlungsort, um zu protestieren. Das haben wir zum Beispiel in Tunesien und in Algerien gesehen. Die Unzufriedenheit der westlichen Fußballfans betrifft die Entwicklung des Fußballs. Die Unzufriedenheit der arabischen Fans zielt auf die gesellschaftliche und politische Lage ab. Und das Stadion ist nun mal ein Ort, wo Menschen aller Schichten der Gesellschaft Zugang haben. Das prädestiniert das Stadion für Protestaktionen.
Welche Rolle spielen Ultragruppierungen in den arabischen Gesellschaften und welchen Einfluss haben sie?
Vor dem arabischen Frühling war es so, dass die Ultras nicht aktiv politisch waren. Sie waren gut organisiert, was den Support ihrer Mannschaft, das Einsammeln von Geld sowie das Planen und Umsetzen von Choreos betrifft. Es gab daher schon eine interne Struktur, auf die später zurückgegriffen werden konnte, als es um Versammlungen und Demonstrationen ging. Sie waren also sehr gut strukturiert, als es losging, und haben später ihre Strukturen für die Organisation politischer Demonstrationen nutzen können. Ein Beispiel dafür sind die Ultras von Al-Ahli und Al-Zamalek aus Ägypten, die eine große Rolle bei der Revolution gespielt haben, zumindest auf den Straßen. In Algerien wurden auf den Straßen bei den Protesten Lieder gesungen, die eigentlich für das Stadion gedacht waren.
Source : Friedrich Ebert Stiftung